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Ein Schnipsel aus dem Lesetip: Michel Clévenot - Reform, Restauration, Renaissace? Geschichte des Christentums im XIX. Jahrhundert

 

Ein Pariser Priester schreibt an seine Bischof, 1849

In Paris ist die Religion nicht mehr zu retten

 

Am 14. September 1849 adressiert ein Vikar einer Pariser Pfarrei anonym an den Erzbischof Msgr. Sibour einen Bericht von zwanzig Seiten, «der verschiedene Mißstände und Heilmittel, mit denen man sie bekämpfen kann, aufzeigt». Am 30. Oktober wird er einen zweiten Vorstoß unternehmen. Die Manuskripte, versehen mit handschriftlichen Bemerkungen des Empfängers, wurden im Jahre 1978 wiederentdeckt und herausgegeben. Sie sind nicht nur außerordentlich kostbar zur Erfassung der Wirklichkeit des Gemeindelebens in Paris vor anderthalb Jahrhunderten, sondern sind auch im wesentlichen von einer erstaunlichen Aktualität.

Bereits in seinem ersten Schreiben macht der Autor sofort eine unerbittliche Feststellung:

Für einen Menschen, der einen Standpunkt jenseits aller Vorurteile und eigener Interessen einnimmt und von dorther überprüft, was in seinem Kopf und in seinem Herzen geschieht, ist es völlig klar, daß die Religion in Paris und den umliegenden Diözesen nicht mehr zu retten ist, wenn wir noch lange fortfahren, bezüglich der Gott betreffenden Dinge so vorzugehen, wie wir es jetzt tun. Im gegenwärtigen Zustand handelt es sich nicht nur darum, die Religion zu erhalten, sondern sie wiederzubeleben, doch wir schaffen noch nicht einmal die Erhaltung.

Es folgt die Beschreibung der bejammernswerten Um- und Zustände, unter denen die wichtigsten religiösen Verrichtungen wie Taufe, Katechismusunterricht, Erstkommunion, Trauung, Letzte Ölung und Begräbnis durchgeführt werden. Man fühlt, daß der Autor aus Erfahrung spricht. Er schildert die Messe bei einer Erstkommunion (was man später «Feierliche Kommunion» und dann «Glaubensbekenntnis» nennen wird):

Die Ansprache war glänzend, es wurde zu Herzen gehend gesprochen, alle hatten sich mächtig herausgeputzt, süßliche Düfte erfüllten den ganzen Raum, und alle Gesichter strahlten vor Freude. Die Kinder haben geweint, denn man hatte ihnen gesagt, dies sei der schönste Tag ihres Lebens; die Eltern haben geweint, denn man weinte im Gedenken an den Tag, wo sie das erste und auch schon das letzte Mal die Kommunion empfangen hatten; alles weinte, denn Tränen sind ansteckend. Die Erstkommunion war also ausgezeichnet, und die Herren des Klerus konnten sich auf ihren Lorbeeren ausruhen. Elende Lorbeeren! ... Die Komödie hat stattgefunden, das ist alles. Bereits die kommenden Ostern werden verstreichen, ohne daß diese Kinder sich darum viel scheren und sich bei euch blicken lassen werden. Ungefähr zwanzig insgesamt werden nach einem Jahr zurückkommen, um die in einem so heiligmäßigen Stil gehaltene Erstkommunion zu erneuern und euch um die verdiente Absolution für zwölf Monate ohne Gebet und ohne irgendeinen Gedanken an Gott zu bitten. Das wird dann auch schon alles sein, das wird allen Ernstes das Ende sein, das endgültige Ende.

Unser Abbé hat jedoch nichts an sich von einem, der die Auseinandersetzung sucht. Sicherlich hat er nicht Lamennais gelesen und teilt in keinem Fall dessen liberale Ideen. Man kann sich schlecht vorstellen, wie er anläßlich der Revolution von 1848 einen Baum der Freiheit einsegnet, noch weniger, daß er bei jenem christlichen Populismus mitmacht, der mit Jesus «den ersten Demokraten» begrüßt. Nein, hier handelt es sich um einen Mann der Ordnung und der Pflichterfüllung, um einen redlichen und mit gutem Gefühl klerikalen Priester. Seine Bindung an die Kirche und seine Untertänigkeit gegenüber dem Bischof stehen außer Zweifel. Genau deshalb bekommt sein Pamphlet auch diese außergewöhnliche Schärfe. Nichts ist heftiger als ein stiller Vater, der in Wut gerät.

Seine Empörung wird hervorgerufen durch Sachverhalte, für die wir heute bestenfalls eine schmunzelnde Erinnerung übrig haben: die Stuhlvermieterin, die während der Gottesdienste die Gebühren für die Sitzplätze einsammelt; die auf der Empore sich die Zeit bis zu ihrem nächsten Einsatz mit Schwatzen vertreibenden Kirchenchormitglieder; das ununterbrochene Ballett der Diakone, Subdiakone, Chorknaben und Küster, vor denen dann noch die mit Federbüschen und falschen Waden ausgestatteten Kirchenschweizer einherstolzieren; die geschwollenen Redensarten der Prediger; die Gläubigen, die auch während der Messe ihren Rosenkranz beten, usw. All dies, was man vor ungefähr vierzig Jahren noch hätte beobachten können, gehört mittlerweile der Vergangenheit an. Gleiches gilt jedoch nicht für den Geisteszustand, dem alles entspringt. Die Analyse desselben durch unseren Vikar läßt sich in einigen Punkten zusammenfassen: Zunächst einmal werden die Sakramente allzu oft rein automatisch ausgeteilt, wobei man einfach nur religiöse Reflexe pflegen und keine Kundschaft verlieren will-, sodann gibt es eine Entartung der religiösen Praktiken durch Scheinheiligkeit und Simulanten, weil sowohl Klerus als auch Laien sich allzu bereitwillig damit zufrieden geben, rituelle Vorschriften zu erfüllen, statt sich um ihre Bedeutung zu kümmern; schließlich ist die eigentliche Ursache dieser Mißstände zu suchen in der Routine des Klerus, seinem nur mittelmäßigen Ehrgeiz und seinem Mangel an missionarischer Perspektive.

Für alle diese Übel empfiehlt der Abbé ganz kühn Heilmittel. Seine zweite Eingabe handelt daher nacheinander ab: 1) den Gottesdienst am Vormittag - die Vesper und die Abendandacht; 2) Glaubensunterweisung und Predigt; 3) die Stuhlverpachtung; 4) die Verwaltung und Verteilung der Almosen; 5) die Vermehrung und die Zahl der Pfarreien. Die mit dem zuletzt genannten Punkt verknüpfte Reform, welche die bedeutsamste, die dringlichste und die von allen bis heute am wenigsten durchgeführte Reform ist, liegt ihm offensichtlich am Herzen und veranlaßt ihn zu völlig zutreffenden Bemerkungen:

Eine Pfarrei von zwölftausend Seelen ist eine gräßliche Zusammenballung, innerhalb deren eine gute Seelsorge beinahe unmöglich ist, während Unordnung und Nachlässigkeit aber unausweichlich sind; von dem Tag an, wo man begriffen hätte, daß das Interesse an den Seelen Vorrang vor allem anderen haben muß, von dem Tag an, wo man sich ernsthaft Gedanken machen würde über die verschiedenen Abstufungen der Mittel, mit denen man die Bevölkerung unter das Joch Jesu Christi bringen kann, müßten alle Pfarreien von Paris einheitlich auf höchstens sechstausend Mitglieder beschränkt werden. Es gibt so gut wie keinen im Dienst befindlichen und erfahrenen Priester, der heute nicht gleicher Meinung ist.

Die Diözese von Paris umfaßt damals die zwölf Verwaltungsbezirke, die durch die Abgrenzung von 1784 des «Gebietes der Generalpächter des Königs» umrissen sind. Die ungefähr fünfundzwanzig Dörfer, wie Montrouge, Passy, La Villette, Charonne, die innerhalb der 1846 errichteten Befestigungsanlagen liegen, werden erst 1859 in die Hauptstadt eingemeindet. Seit Beginn des Jahrhunderts hat sich die Bevölkerung von Paris verdoppelt, d. h. sie ist von einer halben Million auf eine Million angewachsen, was insbesondere zurückzuführen ist auf die Zuwanderung von Arbeitern aus den Provinzen, Weinhändlern von der Yonne, Maurern von der Creuse, Schuhmachern von der Meuse und Kohlenhändlern sowie Schrotthändlern vom Cantal. Die Zahl der Pfarreien beläuft sich dagegen immer noch auf achtunddreißig. Zu einer Pfarrei gehören im Durchschnitt 26 000 Seelen, wobei es allerdings beträchtliche Abweichungen 2ibt: Zur Pfarrei Saint-Pierre-de-Chaillot in der Nähe der Champs-Élysées gehören nur 4000 Seelen; zur Pfarrei Sainte-Marguerite in der Vorstadt Saint-Antoine hingegen gehören 47 000 Seelen. In Paris zählte man damals an die 400 Priester, auf 2500 Einwohner kam also ein Priester. Die Durchschnittszahl von Priestern pro Pfarrei spielte sich statistisch auf ungefähr 10,5 ein, wobei allerdings bestimmte Pfarreien (die kleinsten) einen Pfarrer für 2000 Einwohner, andere einen für 6000 hatten.

Kurz gesagt, der anonyme Vikar hatte nicht Unrecht, als er die ungleiche Verteilung der Aufgaben und die mangelhafte Ausstattung der Kultstätten kritisierte. Im Grunde läuft das, was er im Sinn hat, nicht nur auf eine neue Aufteilung der Territorien und den Bau von Kirchen, sondern auf die Neubestimmung von Sinn und Zweck einer Pfarrei hinaus. Wenn er vorschlägt, die Länge und die Zahl der Gottesdienste zu verringern und ganz einfach andere Formen der Zusammenkunft dafür einzusetzen, dann antizipiert er Initiativen, die erst hundert Jahre später und dann immer noch zögerlich gestartet werden:

Macht aus euren Gottesdiensten familiäre Zusammenkünfte, wo Wahrheiten und nicht Konventionen und Banalitäten lebt, wo man betet, statt zuzuhören und zuzuschauen, wo man unterrichtet, statt ohne Schwung ins Leere zu reden, wo man aus dem Herzen spricht und nur das sagt, was man auch denkt und wirklich tun möchte; schüttelt die Meßglöckchen und öffnet die Türen weit für alle. Ladet alle ein, Platz zu nehmen und eure Tempel werden sich mit Gläubigen und verlorenen Söhnen füllen, ohne diese elende Konkurrenz und ohne diese kindischen Wettläufe zum Glockenturm.

Aber wo soll man sich versammeln, wenn die Mittel fehlen, um die ungefähr 160 Kirchen zu bauen, die benötigt werden, wenn auf je sechstausend Einwohner eine Kirche kommen soll? Die Sache bringt unseren Abbé nicht in Verlegenheit:

Wenn die Stadt uns keine Kirchen bauen und unterhalten kann oder es, nicht will, dann können wir für fünfzehnhundert Francs geräumige und leicht zu unterhaltende Schuppen bekommen, wobei ich davon ausgehe, daß es an Unterstützung nicht mangeln würde.

Was die Kosten anbetrifft, hat er schon alles ausgerechnet: fünf Meßgewänder zu 45 Frs pro Stück, einen Kelch für 90 Frs, sechshundert Stühle zu 0,90 Frs pro Stück, ein Harmonium für 400 Frs sowie noch einige andere Gegenstände von guter und solider Qualität - all dies macht zusammen weniger als 4000 Frs, welche man leicht beibringen könnte, indem man auf den Organisten (er bekommt 405 Frs pro Messe) und die «Sonderprediger» in der Advents- und Fastenzeit ( 2500 Frs) verzichtet.

Das ist alles gut und schön, wird man sagen, aber glauben Sie wirklich, daß sich die Priester mit dieser neuen Pastoral einverstanden zeigen werden. Die sie dazu zwingen würde ihren Alltagsstrott aufzugeben, sich aus der Erstarrung zu lösen und Initiativen zu ergreifen?

Mir scheint, daß der Priester nicht das Recht hat, es abzulehnen, Missionar zu sein. Ich glaube vielmehr, daß er dies mit dem Tag seiner Weihe geworden ist: «Ich habe euch ausgesandt ... Darum gehet hin und lehret alle Völker!» [ ... ]

Stimmt es. daß die Mehrheit, daß die Minderheit, ja eine verschwindend geringe Minderheit des Klerus sich gegen diese Maßnahme der Kirche von Paris zur Wehr setzen würde, wenn die Autorität erklärte, daß es sich hier bei um das Heil der Seelen, um Bewahrung und Erneuerung des Glaubens und der Sitten sowie eine Beruhigung des Gewissens handele? Das glaube ich nicht. Wer wollte denn seine Seele wegen eines gemütlichen Lebens aufs Spiel setzen? Sicherlich sind es nicht einmal fünfzig.

Hier wagt der Korrespondent des Erzbischofs als Schlußfolgerung aus seinem zweiten Schreiben die Aussage, daß sich die eigentliche Verzweiflung der Priester weniger aus einer Arbeitsüberlastung ergibt als aus der Ungewißheit, in die sie sicherlich auch der Mangel an Mitteln, aber insbesondere das Fehlen einer apostolischen Vision stürzt:

Wenn es nicht stimmt, daß der Gesichtspunkt eines armen und entbehrungsreichen Lebens eine große Zahl derjenigen, die nach Paris kommen, um für das Heil der Seelen zu arbeiten, zwingt, sich wieder von Paris zurückzuziehen, dann stimmt es dagegen um so mehr, daß sich sehr viele Priester, und zwar sehr eifrige, wieder zurückgezogen haben, weil sie den Eindruck haben, daß ihr Dienst übersät ist von Behinderungen und Enttäuschungen, wodurch sie bei all ihren Bemühungen in verhängnisvoller Weise gelähmt werden, daß ihr Dienst ihnen beinahe nur gestattet, das Übel zu betrachten und die Heilmittel nur flüchtig in Augenschein zu nehmen, ohne sie anwenden zu können und ohne sie wenigstens beim Namen nennen zu dürfen, daß es sich um einen vergeblichen Dienst handelt, bei dem man seine Kräfte alleingelassen verbraucht und ohne Sinn und Zweck aufreibt.

Die Archive der Diözese von Paris enthalten keinerlei Hinweis auf eine Antwort von Msgr. Sibour an diesen bescheidenen, unbekannten Handlanger, dessen Identität man mühelos hätte feststellen können. Dagegen wissen wir aber, daß er gegen den Widerstand der Regierung und die Gegnerschaft bestimmter Pfarrer sich dazu durchgerungen hat, neun neue Pfarreien zu schaffen: Saint-Augustin, la Sainte-Trinité, Saint-Joseph, Saint-Eugéne, Saint Marcel-des-Champs, Saint-Éloi und Saint-Marcel.. Anläßlich des Anschlusses von Dörfern aus der unmittelbaren Umgebung an Paris fügte er dieselben in die drei Pariser Erzdiakonate ein (eine kluge Maßnahme, die uns von seinem Nachfolger, Msgr. Darboy überliefert wurde). Schließlich war er in dieser Epoche, wo sich außerhalb des kirchlichen Rahmens die Arbeiterklasse herausbildete, einer der wenigen Bischöfe seiner Zeit, der sich damit beschäftigte, indem er insbesondere das Projekt eines Apostolates für die Quartiere der unteren Schichten und der Vorstädte genehmigte. Im Januar des Jahres 1857 erlag er den Messerstichen eines suspendierten Priesters.

Bevor die beiden Schreiben des ihm unbekannten Vikars bei ihm eingegangen waren, erreichte Seine Gnaden (wie man damals die Bischöfe betitelte) ein weiterer anonymer Bericht, welcher von einem Priester abgefaßt wurde, den bestimmte Historiker als den Abbé Martin de Noirlieu, Pfarrer von Saint-Louis d’Antin, meinen identifizieren zu können. Bei diesem Bericht herrscht eine andere Tonart vor, der Stil ist flüssiger, der Rahmen allgemeiner gehalten. Um so überraschender ist die Feststellung, daß das Anliegen das gleiche ist. ... (Seite 48ff)

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