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Eine Kostprobe des Lesetips: Johanna Spyri - Heidi. Erster und zweiter Teil Es war die letzte Woche,
welche die Großmama in Frankfurt zubringen wollte. Sie hatte eben nach Heidi
gerufen, dass es auf ihre Stube komme [...], Als Heidi eintrat mit seinem großen
Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, dass es ganz nahe zu ihr
herankomme, legte das Buch weg und sagte: „Nun komm, Kind, und sage mir, warum
bist du nicht fröhlich? Hast du immer noch denselben Kummer im Herzen?“ „Ja,“ nickte Heidi. „Hast du ihn dem lieben
Gott geklagt?“ „Ja.“ „Und betest du nun alle
Tage, dass alles gut werde und er dich froh mache?“ „O nein, ich bete jetzt
gar nie mehr.“ „Was sagst du mir, Heidi?
Was muß ich hören? Warum betest du denn nicht mehr?“ „Es nützt nichts, der
liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube es auch wohl,“ fuhr Heidi in
einiger Aufregung fort, „wenn nun am Abend so viele, viele Leute in Frankfurt
alle miteinander beten, so kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und
mich hat er gewiß nicht gehört.“ „So, wie weißt du denn
das so sicher, Heidi?“ „Ich habe alle Tage das
Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der liebe Gott hat es nie getan.“ „Ja, so geht’s nicht zu,
Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst du, der liebe Gott ist für uns alle
ein guter Vater, der immer weiß, was gut für uns ist, wenn wir es gar nicht
wissen. Wenn wir aber nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns
ist, so gibt er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren
so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und alles
Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm erbitten wolltest, das
war in diesem Augenblick nicht gut für dich, der liebe Gott hat dich schon gehört,
er kann alle Menschen auf einmal anhören und übersehen, siehst du, dafür ist
er der liebe Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl
wusste, was für dich gut ist, dacht er bei sich: Ja, das Heidi soll schon
einmal haben, wofür es bittet, aber erst dann, wenn es ihm gut ist, und sowie
es darüber recht froh werden kann. Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und er
merkt nachher, dass es doch besser gewesen wäre, ich hätte ihm seinen Willen
nicht getan, dann weint es nachher und sagt: ‚Hätte mir doch der liebe Gott
nur nicht gegeben, worum ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich gemeint
habe.’ Und während nun der liebe Gott auf dich niedersah, ob du ihm auch
recht vertrautest und täglich zu ihm kommest und betest und immer zu ihm
aufsehest, wen die etwas fehlt, da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen,
hast nie mehr gebetet und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du,
wen einer es so macht und der liebe Gott hört seine Stimme gar nie mehr unter
den Betenden, so vergisst er ihn auch und lässt ihn gehen, wohin er will. Wenn
es ihm aber dabei schlecht geht, und er jammert, ‚Mir hilft aber auch gar
niemand!’, dann hat er kein Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm:
‚Du bist ja selbst von Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!’ Willst
du’s so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum lieben Gott gehen und
ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm weggelaufen bist, und dann alle
Tage zu ihm beten und ihm vertrauen, dass er alles gut für dich machen werden,
so dass du auch wieder ein frohes Herz bekommen kannst?“ Heidi hatte sehr aufmerksam
zugehört; jedes Wort der Großmama fiel in sein Herz, denn zu ihr hatte das
Kind ein unbedingtes Vertrauen. „Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen
und den lieben Gott um Verzeihung bitte, und ich will ihn nie mehr vergessen,“
sagte Heidi reumütig. „So ist’s recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit, sei nur getrost“ ermunterte die Großmama, und Heidi lief sofort in sein Zimmer hinüber und betete ernstlich und reuig zum lieben Gott und bat ihn, daß er es doch nicht vergesse und auch wieder zu ihm aufschauen möge. (Seite 110f.)
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