Vom
Essen in Gesellschaft
Die Auswahl der Tischgenossen - eine
schwierige Kunst; denn jede Mahlzeit ist ja kannibalisch: außer den Speisen auf dem
runden Teller verzehren, probieren, lecken und schmecken wir auch unsere Tischgenossen,
wenn wir sie nicht sogar gierig auffressen. Ein falscher Tischgenosse, der sich nicht
probieren läßt oder sich, einmal probiert, als zäh, fad und tiefgekühlt herausstellt,
kann ein erlesenes und fein ausgedachtes Abendessen verderben. Fingerspitzengefühl ist
von Nöten, da es ja ein erstes Mal geben muß; sobald man sich jedoch einen schmalen und
genauen Katalog zusammengestellt hat, halte man sich daran, achte jedoch darauf, daß ein
Tischgenosse sich nicht gerade in einer Lebenslage befinde, die ihn ungeeignet macht; er
sollte beispielsweise nicht gerade hoffnungslos verliebt sein oder erst seit kurzem
Liebeswonnen genießen oder als Sammler gerade ein seltenes Stück aufgestöbert haben;
auf jeden Fall auszuschließen sind: Amateurfotografen, die gerade von einer Reise zurück
sind, Neubekehrte jedweder Religion, eine Woche alte politische Militanten, Theosophen und
gedungene Mörder. Eine gute Gesellschaft darf vernünftigerweise nicht aus mehr als sechs
bis acht Personen bestehen, es sollten sich unter den Anwesenden jedoch weder siamesische
Zwillinge noch ein Medium befinden, das den Raum auf unbehagliche Art füllen könnte. Zum
Lachen ist das Gastmahl - an Pascoli gemahnend oder pseudogriechisch; abscheulich aber ist
es, im Stehen zu essen, denn dabei kommt es zu einem brutalen Durcheinander zufälliger
Weine, Gesellschaft, Stimmengewirr und tiefste Gedanken wechseln ständig. Was ein
Prediger des 14. Jahrhunderts »karnevalische Freß- und Saufgelage« nannte, sollte man
auf jeden Fall meiden; auch den Lärm im allgemeinen, denn er paßt zu Volksaufständen
und öffentlichen Hinrichtungen, schickt sich aber nicht als Begleitung für eine
schüchterne, bräutliche Bechamelsoße oder für den zwar abgebrochenen, aber noch immer
himmlischen Flug einer Drossel. Wohl schmecken kann auch ein intimes Abendessen, eine
Winzigkeit für Ihn und Sie, zwei Leckermäuler, Komplizen und Verbündete, aber
keinesfalls gefräßig, gierig oder unersättlich, sondern zärtlich probierbereit, denn
es versteht sich von selbst, ein solches Abendessen ist pure Menschenfresserei, und das
einzige Gericht ist das Gegenüber. Das Schlemmgelage ist archaisch und wird nur noch im
Kino gezeigt von bezahlten Schmierenspielern, die man vorher in speziellen Käfigen fasten
läßt; die Orgie gehört zum Wirtschaftswunder, zum kaiserlichen Rom, zu Nabuchodonosor
und den Malern des 19. Jahrhunderts; sollte man vor die Wahl gestellt werden, ist ein
karges Abendessen vorzuziehen, denn es kann trotzdem ein wohl kalkuliertes und
raffiniertes Unterfangen voll gelassener Freude sein.