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Ein Schnipsel aus dem Lesetip: Muschg - Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzivâl

 

NACH SOLTÂNE

WIE DIE WELT ZUM ERSTEN MAL PARZIVÂLS KÖNIGREICH WIRD

Nach Parzivâls Geburt hatte der Sommer sein Äußerstes getan und brach zusammen. Wer nun die Rache eines strengen Winters gefürchtet hatte, fand sich angenehm überrascht. Parzivâls erster Winter war sehr mild. Das Jahr ließ nur den angehaltenen Atem ausströmen. Blätterwirbelnd fuhr er über die Zinnen und gönnte sich eine kurze Ruhe, während welcher ein Schnee sich setzen durften auf die leichte Welt und die ausgeräumten Wälder. Denn alle Gesichter der Natur wollten das Kind einmal sehen und blickten kurze Zeit durch verhängte Burgscharten - neuerdings gab es ja auch ein paar verglaste - in die Heimlichkeit hinein.

Aber diese waltete vor, umgab die Wiege von allen Seiten und ließ es wohl stehen um Parzivâl. Heimlichkeit tanzte im Feuerlicht des Kamins und huschte mit freundlichen Schatten über die Deckenbalken. Sie neigte sich mit großen Augen herein, die sich in leisem Lachen verkleinerten. Nur Ein Paar wurde noch größer, wenn es lachte. Dieses Augenpaar schien das zuständigste zu sein. Denn es kam immer wieder, und immer kam auch Nahrung die Fülle hinterher. Man wurde aufgehoben, um lange gehalten zu werden. Man sank in eine Welt aus warmem Dunst, wo Milch und Honig flossen. Man brauchte nur zu saugen, um satt zu werden, mit quellenden Lippen, Zug um Zug. Es war ein ständiges Aufheben und inständiges Aufgehobensein, alles ging in Behaglichkeit zu und her, her und zu. Eins kam immer nach dem andern, und von jedem gab es genug.

Allmählich konnte man die Bewegung unterscheiden, in die man gesetzt wurde. Doch war jede überaus herzlich und behutsam. Und über allen schwebte der Laut eines warmen Lachens, ein unaufhörlicher, niemals drängender Lockruf der nahen Welt.

Alles war nah und wartete nur darauf, daß man es noch näher hole, bis in den Mund hinein. Man genoß es auch, alles ringsumher durcheinanderzuwirbeln, indem man schrie. je kräftiger man schrie, desto rascher lief es hin und her, bis es kam in der Form eines erfüllten Wunsches. Verschiedenförmige Wünsche gab es, nasse und trockene, warme und kühle, bewegliche und ruhige. Allen war gemeinsam: sie erfüllten sich gern. Sie hatten nichts anderes zu tun. Man brauchte nur zu schreien. Am Ende flossen sie alle in dem Einen erfüllten Wunsch zusammen: da zu sein, im Dasein gewiegt zu werden, bis jeder Wunsch versank. Nach einer stillen Weile stieg man auf aus der grundlosen Tiefe, um wieder gewiegt zu werden und Wünsche erfüllt zu bekommen, einen nach dem anderen.

So königlich wird man es nie mehr haben.

Das war Parzivâl, doch einen Namen hatte er noch nicht und wird von der Mutter weggehen müssen, um ihn zu hören.

Einstweilen heißt er: Dusüßeskind Duliebeskind, und einen Ton höher: Duguteskind! Diesen Namen bekommt er immer, wenn er sich erleichtert hat und dampft im Wohlgeruch faustdicken Werks. Dann muß er dulden, daß er eine halbe Ewigkeit von Kälte umweht, von Nässe betupft wird. Oft breitet sie sich zur Pfütze aus, könnte viel wärmer sein und viel trockener. Doch braucht er dann nur zu schreien, und etwas geschieht gewiß. Das Wasser hüpft sich warm, nur trocken wird es leider nicht, vor allem nicht im Gesicht. Gegen Wasser im Gesicht ist sehr viel einzuwenden. Da hilft nicht einmal das stärkste Brüllen.

Aber wenn es so recht laut wird, kriegt der Schreier selbst seine Freude daran. Er setzt das Gebrüll noch ein wenig fort, aus sportlicher Wut, wenn ihm schon wieder wohl und warm sein könnte. Wohl- und Warmsein ist nämlich durchaus nicht alles. Brüllen tut auch gut, manchmal sogar besser. Dabei ist er längst kein Guteskind mehr, sondern wieder ein Liebeskind Süßeskind. Auch das Lachen schwebt wieder durch den Raum, und er kann es noch umfassender machen, wenn er brüllt. Nun wird er wieder gehaltengetragen, das Brüllen macht Spaß, und schließlich macht es müde.

So begann das Liebesüßegutekind zu lernen, wie man die Welt steuert, und jeden Tag wurde sein Reich größer. Er konnte ein entferntes Gesicht von einem nahen unterscheiden. Manchmal war auch das gleiche Gesicht einmal näher, einmal ferner. Man unterschied die richtigen Gesichter von den unpassenden. Doch brauchte man nur einen Ton zu lassen, mit Mund oder Bauch, dann verschwand das falsche und erschien das richtige Gesicht. Oder das richtige kam noch näher und so nahe, daß es nicht mehr zu sehen war, nur noch zu fühlen. Es konnte geschehen, daß man wieder naß wurde im Gesicht. Aber diesmal kam nur wenig Nasses und schmeckte nach Salz. Man konnte es essen wie alles Nahe. Aber man lernte: nicht allem Nahen beliebte es auch zu schmecken. Manches widerte und verzog einem den Mund.

Und eines glorreichen Tages - man hatte das richtige Gesicht herbeigebrüllt, doch mit sparsamem Aufwand, auch Aufwand zu sparen macht Spaß -: da begab es sich, daß dieser Spaß an den Lippen zupfte, schon ehe man die Fülle der Nahrung bezog. Man verzog den Mund, bevor er mit Saugen begann.

Und damit bewirkte man Ungeheuerliches. Die ganze Nähe begann zu tanzen und zu fliegen. Sie platzte in lauter Bewegung auseinander und lachte nah und fern, laut und leise. Das richtige Gesicht wollte gar nicht mehr aufhören, sich einem zuzuneigen. Es hatte gleichfalls den Mund verzogen. Es näßte so warm, daß man gar nicht anders konnte, als sich selber naß zu machen. Wunder ohne Ende!

Und als man an der Brust lag, probierte man den Mund noch einmal aus: ja, er ließ sich zusammenziehen, ohne daß man gleich zu saugen brauchte. Man brauchte mit dem Mund nicht nur zu trinken oder zu brüllen! Man konnte ihn auch spielen lassen.

Von da an verzog man den Mund sogar häufiger, als man brüllte. Denn es war wirksamer, jedenfalls in der Nähe, die Wünsche drängten förmlich herbei, und man brauchte durchaus nicht jeden zu erfüllen. Man konnte etwas tun, man konnte es auch lassen. Und wurde immer noch liebundsüß genannt, süßundlieb.

Was ist von einer Kindheit Königlicheres zu berichten, als daß man von ihr gar nichts zu wissen brauchte? Man war inmitten, und es war gut. Sie dauerte ewig, so kurz der Winter war. Denn der Winter hatte noch keinen Namen, so wenig wie das richtige Gesicht, dem man alles entlocken konnte: Töne, leise, laute und halblaute; Nahrung und Wärme, Tränen und bloße Haut; jede Berührung an jeder Stelle des Leibes. Auch der Leib durfte namenlos bleiben. Der Leib hieß Wohlsein. Er reichte überall hin, denn alles Gewünschte zog er in die Nähe. Nichts war unfreundlich, auch das Unangenehme nicht, denn es ging bald vorüber, und immer unter Lachen. Alles war voll Liebe, und auch diese hatte keinen Namen, denn es gab nichts außerdem, oder nie lange.

Man lernte immer besser alles hersteuern, was eine Wohltat war, und alles verscheuchen, was sich auf Wohltun nicht verstand. Man lernte mit der Nähe verhandeln, bis sie sich schickte, wie man sie haben wollte. Fast nie geschah etwas wider den eigenen Willen, außer der Nässe, diese aber, in Anbetracht ihrer Kürze, lernte man dulden. Auch dulden konnte eine gute Art sein, mit einem Gesicht zu verhandeln. Denn je weniger man zappelte, desto schneller ging das Nasse vorbei.

Und so weiter auf ewig. Wir waren alle da, wo sich das Kind ohne Namen verweilt. Wir brauchten keinen Namen, um die Wohltat der Nähe zu erfahren (wenn auch selten genug davon) und die Kälte der Entfernung (wenn auch immer zu viel davon). Nicht allen von uns ging es so gut wie Parzivâl. Der Glückliche nämlich ist am Morgen seines Lebens nackt geliebt worden. Das macht auch verwandt mit dem nackten Unglück, und also herzhafter im Verkehr mit ihm, wenn es eines Tages anklopft, damit wir es nähren und kleiden, als gehörte es zu unserer Familie." (Seite 253ff)

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